Der 44-jährige Gunnar Hindrichs legt mit seiner Musikphilosophie „Die Autonomie des Klangs“ aus dem vergangenen Jahr ein postmodernes re-enactment der Heideggerschen Fundamentalontologie als seminaristisches Schreib-Exerzitium vor.
Das geht schon mal damit los, dass er die gesamte übergeordnete Begrifflichkeit („Material“, „Klang“, „Zeit“, „Raum“, „Sinn“, „Gedanke“), an der sich der Text entlanghangelt, einfach aus der abendländischen Philosophietradition (exklusive des 20. Jahrhunderts wohlgemerkt!) übernimmt. Der Autor hat – im Gegensatz etwa zu seinem musikphilosophischen Kollegen Harry Lehmann – offenbar keinerlei Ambition, neue, erklärungsmächtige musikphilosophische Begriffe zu entwickeln. Er begnügt sich damit, vorhandene Gedanken (z. B. Arnold Schönbergs) in, zugegeben, akademisch äußerst feinsinniger Weise wiederzugeben und auch – ein wenig – neu zu verknüpfen.
Davon kann mensch sich dann schon ganz hübsch einlullen lassen, vor allem, weil Hindrichs sich einer an Derrida erinnernden, ausgesprochen suggestiven écriture bedient, die als rhetorische Spachtelmasse die teilweise beträchtlichen Fugen zwischen den gesampelten Theorieblöcken effizient zum Verschwinden zu bringen weiß. Der Rezensent wollte diese – intuitiv rasch wahrgenommene – Strategie des Autors zunächst selbst nicht so recht wahrhaben, und so stellte ich einen fix verfassten Verriss der „Autonomie des Klangs“ erst mal eine ganze lange Weile in die Ecke, um das Buch schließlich nochmals gründlich durchzuarbeiten. Doch erwies sich mein ursprünglicher Eindruck leider als korrekt. Ziemlich weit hinten im Buch wird Hindrichs dann explizit:
Um den musikalischen Sinn zu bestimmen, den Klänge im Bezug auf Außermusikalisches haben, muß daher ein Modell entwickelt werden, das den funktionalen Sinn als die Grundlage zu verstehen hilft, auf der die anderen Sinne entstehen können. (…) Das benötigte Modell ist das Modell des vierfachen Schriftsinnes. Es wurde von der Theologie zur Deutung der Bibel entwickelt.
(G. Hindrichs: „Die Autonomie des Klangs“, S. 217)
Der Autor möchte also die Methodik traditioneller Bibel-Exegese auf die Interpretation von Musik übertragen. Die Partitur wird so zur „Heiligen Schrift“, deren mehr oder minder hermetische Botschaft von musiktheologisch geschulten Experten auf ihre Bezüge zum „Außermusikalischen“ (vulgo: der „Welt“) hin abgeklopft werden muss.
Natürlich war ich neugierig, ob Hindrichs auch irgendwelche Kriterien liefert, welcher Art von Musik denn nun eine solch ehrfürchtige Behandlung zuteil werden soll. Schließlich behauptet er ja, eine Musikphilosophie, also eine universal anwendbare Betrachtungsweise vorgelegt zu haben. Leider aber schweigt er sich über diesen Punkt aus. Ich kann also nur indirekt – aus den Musikbeispielen, die er auswählt – auf den Gültigkeitsbereich seiner Gedanken schließen. Und da zeigt sich, wer hätte es gedacht, dass dieser wohl nur von Bach bis Lachenmann reicht (Cages mit dem Zufall arbeitende Kompositionen sind bereits Grenzfälle, über Petitessen wie Pop, Jazz oder Minimal music schweigt sich der Autor vornehm ganz aus). Erstaunlicherweise wird aber Kreidlers Neuer Konzeptualismus erwähnt, und zwar so:
Wie sein Vorbild, die Konzeptkunst der sechziger und siebziger Jahre, bindet er den Abschied vom Material mit dem Abschied vom Werk zusammen und erzwingt eine fröhliche Entdifferenzierung von Musikalischem und Außermusikalischem. Sein Schicksal ist jedoch das gleiche, das bereits John Cage erlitt: Was ihm gelingt, gelingt ihm einzig als Kontrast zum Werk. Erzeugnisse mit Eigengeltung hingegen … beglaubigen sich nicht aus ihrem Konzept, sondern aus ihrem Umgang mit dem Material. Ansonsten wird vor der Differenziertheit des Musikalischen ihre Entdifferenzierung schal.
(G. Hindrichs: „Die Autonomie des Klangs“, S. 71 – 72)
Der Neue Konzeptualismus ist also musiktheologischer Betrachtung nicht würdig, da er unter dem Radar des – im Sinne Hindrichs – autonom Werkhaften hindurchsegelt. Es ist also nicht einmal so, dass Hindrichs Kreidlers Arbeiten ablehnen würde, er bestreitet schlicht, dass es sich dabei überhaupt um Kompositionen handelt (und kann somit den Orchestermusikern bei der Stuttgarter Uraufführung von Kreidlers „-Bolero“ tiefenentspannt die Hand reichen).
Stellt sich natürlich die Frage, ob die weitere Beschäftigung mit der „Autonomie des Klangs“ überhaupt lohnt. Nun, diese Entscheidung wird mir schon dadurch aus der Hand genommen, mit welcher ungewöhnlichen Euphorie es akademische Kreise (Claus-Steffen Mahnkopf, Günter Figal) bereits rezipiert haben – allein deshalb wird es „relevant“, ganz unabhängig davon, welch alteuropäisch exkludierenden Elitismus es auch transportieren mag.
In diesem Sinn ist Hindrichs Wälzer ein echtes Ärgernis und ich kann nicht umhin, ihn dann – leider – doch in eine Reihe mit paläokonservativen (sprich: erzreaktionären) Musikpublizisten wie Roger Scruton (auf dessen Gedanken Hindrichs auf den Seiten 95 – 98, 102, 215, 222 und 229 eingeht) und dem etwas gröber gestrickten John Borstlap (dessen Name bei Hindrichs natürlich nicht auftaucht, aber ich stelle Geistesverwandtschaft fest) zu stellen.
Und so reiht sich denn „Die Autonomie des Klangs“ ein in die lange Reihe von „Retro-Utopien“, an denen diese Jahre so überaus reich sind. Man spürt, dass der „Geist aus der Flasche“ entwichen ist, entwickelt massive (Zukunfts-)Angst und beginnt, vermeintlich funktioniert habende vergangene Ordnungsmodelle aufwändig zu rekonstruieren bzw. zu re-formulieren. Es mag ja sein, dass dadurch subjektive Ängste erfolgreich niedergehalten werden, dass so aber komplexe Gemengelagen der Gegenwart angemessen beschrieben und analysiert werden können, mag ich nicht glauben.
Hindrichs ist ein äußerst ernst- und gewissenhafter, zudem ehrgeiziger intellektueller Arbeiter, das ist wohl kaum in Frage zu stellen. Schreiben kann er auch, das Buch hat zweifellos Stil und der Autor ist in der Lage, auch über längere Strecken Gedankenfäden auf abstrakter Ebene zu spinnen, die sogar – so man denn Spaß am Umgang mit Abstrakta hat und die Prämissen des Autors akzeptiert – eine deutliche Sogwirkung entfalten: eine echte Seltenheit! So gesehen, ist „Die Autonomie des Klangs“ ein gut, ja sogar hervorragend gemachtes Buch. Aber mir sind nun mal Inhalte wichtiger als Form – und was die betrifft, hockt der Text im allerverstaubtesten Dachkämmerchen des Elfenbeinturms und wünscht sich zurück in eine heile Welt absoluter, metaphysisch legitimierter Autorität.
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