„Music is a prostitute“

Was weiß die Wissenschaft (nicht nur die Musikwissenschaft, sondern die Wissenschaft überhaupt) eigentlich darüber, wie Musik beim Menschen Gefühle auslösen kann? Nun – nicht sehr viel, wie der Musikologe und Psychologe Steven Brown vor 4 Jahren in diesem Vortrag in der Library of Congress betonte:

Seine ebenso schnöde wie lustige Zusammenfassung des Problems lautete: „Music is a prostitute“, was freilich den Protest des bildungsbürgerlichen Publikums erregte (vgl. die Diskussionrunde gegen Ende des Videos).

Ich verstehe Browns Aperçu folgendermaßen: Musik ist zweifellos in der Lage, Menschen emotional zu manipulieren. Sie besitzt dabei aber keinerlei eigenen ethischen Kompass, sondern fügt sich widerstandslos ihrem „Zuhälter“, dem jeweiligen soziokulturellen Kontext nämlich. Musik ist (außer natürlich für komplett a-musikalische Menschen) ein hervorragendes Mittel zum Zweck, eine Verführerin eben, eine endlose Verlockung, ein (diffuses, aber unwiderstehliches) Versprechen, ein Nirwana, eine Utopie – you name it. Euphorie, Trauer, Wut etc. kann sie bei „musischen“ Menschen nahezu nach Belieben wecken, doch ist ihnen diese Empfänglichkeit angeboren (was nicht heißt, dass musikalische Bildung unwichtig wäre), sie können sich also – auf rein „sinnlicher“ Ebene – nicht gegen ihre Manipulation wehren (im Umkehrschluss heißt das natürlich, dass sie sich auch nicht dafür schämen müssten).

Vor allem Instrumentalmusik ist demzufolge semantisch chronisch unterbestimmt, was sie zum idealen Gefäß für außermusikalische Botschaften macht (vgl. Adolf Hitlers Interpretation der Musik Richard Wagners bzw. Thomas Manns oder Theodor W. Adornos diametrale Interpretationen der Musik Arnold Schönbergs).

Mich als Komponisten vorwiegend instrumentaler Musik haben Browns Erkenntnisse (die er experimentell belegen kann) einerseits ernüchtert, andererseits ermutigt. Ernüchtert, weil dadurch glasklar wird, dass Instrumentalmusik als sonisches Phänomen ethisch komplett indifferent ist (ich ahnte es bereits, hatte aber irgendwo immer noch Hoffnung, es gebe so etwas wie „an sich gute“ Musik, deren ethischer Wert sich komplett immanent offenbart), ermutigt, weil ich dadurch bestärkt fortfahren kann, Erläuterungen zu meinen Kompositionen zu publizieren, die ihrer „richtigen“ soziokulturellen Einbettung Vorschub leisten mögen.

Oder ich werde gleich zum Gehaltsästheten.

P.S. Wer sich noch weiter in die Thematik einarbeiten möchte, kann sich hier Browns Essay „How Does Music Work?“ aus dem Jahr 2006 herunterladen.

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