00:00 «Improvisation» – 04:37 «Melodie» – 07:27 «Algorithmus»
Temperierung arabisch d (siehe Kompositionsnotiz)
Microtonal MIDI Software Harmonic, PianoTuner (F. Nachbaur)
Sample-Bibliothek Yamaha Maestro (Mats Helgesson)
Kompositionsnotiz 2014
Das Ausgangsmaterial für diese Sonate 1 stammt aus dem PianoLog 2006-04-26, einer viertelstündigen Improvisation auf einem 88-tastigen-MIDI-Keyboard.
Große Teile dieser sehr lebhaften, hin- und herwogenden Improv erschienen mir auch jetzt noch ausgesprochen gelungen, nur der Anfang hörte sich nun reichlich redundant an, also weg damit. Der Grundstein für den ersten Satz «Improvisation» war damit gelegt.
Den zweiten Satz wollte ich ruhig haben. Nachdem ich auch hierfür geeignetes Ausgangsmaterial aus dem PianoLog herauspräpariert hatte, fiel mir dessen quasi-arabische Melodik auf. Warum das also nicht mal in einer authentisch arabischen, d. h. mikrotonalen Skala neu temperieren? Nach langem Herumprobieren mit und Austesten von verschiedenen Skalen entschied ich mich für eine 12-stufige Temperierung, die ich mal bei meiner Erforschung arabischer Popmusik in den Nullerjahren aus einem Standard MIDI File extrahiert hatte. Hierbei werden die große Sekund, die große Terz und die Sext in jeder Oktave exakt um 62,5 Cent nach unten gestimmt, alle anderen Intervalle bleiben unverändert. Lage und Größe dieser mikrotonalen Intervalle entsprechen dem 8-stufigen Maqam „Sikah Baladi“.
In der Tuning-Software intun sieht die abendländische Default-Temperierung so aus:
NAME 12 Gleichschwebende Stimmung DEGREES 12 PITCH 261.626 CENTRE 60 1 c100.00 2 c200.00 3 c300.00 4 c400.00 5 c500.00 6 c600.00 7 c700.00 8 c800.00 9 c900.00 10 c1000.00 11 c1100.00 12 r2 END
Die in «Sonate 2006» verwendete Skala wird demzufolge so implementiert:
NAME Pitch -62.5 Cent für e, f# und h, Grundton ist d. DEGREES 12 PITCH 293.665 CENTRE 62 1 c100.00 2 c137.50 3 c300.00 4 c337.50 5 c500.00 6 c600.00 7 c700.00 8 c800.00 9 c837.50 10 c1000.00 11 c1100.00 12 r2 END
Merkwürdigerweise hatte ich gerade den nun verworfenen Stück-Anfang noch am besten im Ohr gehabt, während ich eine viel später folgende, eher ruhige Passage gar nicht mehr erinnerte. Aber genau die gefiel mir nun ganz hervorragend und so machte ich sie mit Freuden zur Basis des dritten Satzes „Algorithmus“.
Psychoakustisch-musikpsychologische Selbstbeobachtung
These Die eigene Musik plötzlich einer anderen Temperierung zu hören ist eine bewusstseinserweiternde Erfahrung.
Begründung Zunächst ging es mir mit den re-temperierten Ecksätzen meiner «Sonate 2006» gar nicht gut. Die nachträglich „arabisierte“ Variante hörte sich recht hart an, vor allem natürlich die harsch aufeinanderprallenden Akkorde, die es in der vorwiegend monophonen arabischen Musik ja gar nicht gibt. Diese Sätze im Maqam Sikah Baladi auf der Basis d
neu zu temperieren, ist ein Akt künstlerischer Willkür, der sich musikalisch nicht unmittelbar anbietet.
Ich legte alles einige Tage beiseite, um mich mit völlig anderen Dingen zu beschäftigen. Anschließend ging’s wieder ans Werk. Bemerkenswerterweise hörte sich alles nun schon viel weniger harsch an – und diese Empfindung verstärkte sich sogar noch beim wiederholten Hören.
In diesem Zusammenhang fiel mir etwas ein: Ich empfinde die relative Verstimmtheit eines Klaviers nie so stark wie bei der ersten Begegnung mit einem neuen Instrument. Habe ich erst einmal eine Weile darauf improvisiert, beginnt mein Falschheitsempfinden abzuschmelzen, auch wenn das Instrument ein komplett schräger Otto ist. Und irgendwann fange ich stets damit an, besonders prägnant verstimmte Töne bewusst einzusetzen.
Ähnlich ging es mir offenbar nun beim wiederholten Hören meiner nachträglich arabisierten Musik: aus klarem Falschheitsempfinden wurde allmählich eine eher neutrale Empfindung und schließlich ganz allmählich ein Richtigkeitsempfinden. Ich erkläre mir das mit der zunehmenden Antizipationsfähigkeit beim wiederholten Hören eines Musikstücks:
…
[Akkord erklingt]
…
„Ja, genau so hat er geklungen!“
Das wiederholte Hören der verstimmten Variante brachte das Falschheitsempfinden allmählich zum Verschwinden, es wurde zu guter Letzt durch ein (neuartiges, vorbildloses, d. h. soziokulturell nicht vorstrukturiertes) Richtigkeitsempfinden ersetzt. Ich habe mir also meine eigene Musik buchstäblich zurechtgehört.
Das ist umso erstaunlicher, als ich nach der erstmaligen Implementation der mikrotonalen Skala relativ sicher war, mit meinem Experiment gescheitert zu sein. Ich dachte mir zu diesem Zeitpunkt (also vor der o. a. mehrwöchigen Unterbrechung): „Na gut, dann eben nicht, war halt ne Kopfgeburt, diese nachträgliche Mikrotonalisierung, das Stück ist eben nun mal in der gleichschwebenden Stimmung entstanden, also muss es auch so gespielt werden.“ Dies war ganz offenbar ein Irrtum.
Vielen Dank für die ausführliche und erhellende Einführung. Ohne diese Informationen wäre man als Hörer vor einem großen, unlösbaren Rätsel gestanden. So bekommt die Komposition eine faire Chance und die hat sie verdient. Ich muss es mir selbstverständlich noch in weiteren Durchläufen „guthören“, kann aber jetzt schon sagen, dass das Sample-Piano in der „verstimmten“ Variante passagenweise natürlicher, interessanter und „realer“ klingt als in der herkömmlichen, abgerockten Standardstimmung. Das hat mich selbst gewundert, hatte ich doch nach deinem Vorwort bei mir erst einmal eine intuitive Abwehrreaktion gegen ein nichtvertrautes, akustisches Bezugssystem erwartet. Tja, man lernt halt nie aus.
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@Dennis: Danke für deinen Kommentar 🙂 Meine Kompositionsnotitz hat natürlich auch eine außermusikalische, politische Dimension. Schließlich migriert hier ein arabisches Tonsystem in die europäische Kunstmusik ein. So gesehen ist die Sonate gar nicht experimentell, sondern ziemlich „diesseitig“. Oder anders gesagt, ich habe den Maqam Sikah Baladi nicht deshalb implementiert, um den „Materialstand“ der „Neuen Musik“ zu erweitern, sondern, weil ich eine gesellschaftlich relevante Problemlage mit rein musikalischen Mitteln illustrieren wollte.
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