Eine Karikatur zum CHR (Cologne Harpsichord Riot)

Dass ein klassisch arbeitender Karikaturist etwas zum Thema „Rezeption der Minimal music in Deutschland“ beiträgt, habe ich noch nicht erlebt. Jetzt aber schon. Folgende Zeichnung von Rupert Hörbst entnahm ich gestern www.nmz.de:
reichskandal
Dazu liefert die Website noch folgenden Text:

Nach den Vorfällen während einer Matinee („Reden Sie gefälligst Deutsch!“) hat die Kölner Philharmonie als erstes deutsches Konzerthaus Englisch-Kurse für ihre Abonnenten eingeführt. Der Cembalist Mahan Esfahani erklärte sich spontan bereit, die erste Unterrichtseinheit zu übernehmen.

Hm, das Ganze war wohl als Aprilscherz gedacht. Na jaaa…

Aber: gut, die Kölner Visagen sind ja ganz nett getroffen und erinnern stark an die Nachkriegsästhetik des Kölner Karnevals. Und der, äh, „Humor“ der Karikatur auch.

„The Harpsichord Riot“: Reich in Köln zum Zweiten

Die Ereignisse des 28. Februars in der Kölner Philharmonie ziehen weitere Kreise. Zunächst einmal ist der Bericht eines Augenzeugen – einem Orchestermitglied – aufgetaucht, der noch einmal alles bestätigt, was bereits bekannt ist. Trotzdem halte ich es für sinnvoll, ihn hier auszugsweise wiederzugeben, damit auch der letzte Zweifel zerstreut wird, bei der ganzen Chose handele es sich etwa um ein Produkt irgendeiner „Lügenpresse“. Alexander Scherf, Cellist bei Concerto Köln, schildert den Vorfall so:

Concerto Köln hat heute zusammen mit einem großartig spielenden Mahan Esfahani als Solisten ein spannendes Konzert in der Kölner Philharmonie gegeben … Nach einem bejubelten J. S. Bach Cembalokonzert versuchte Esfahani in der zweiten Konzerthälfte Steve Reichs „Piano Phase“ aus dem Jahr 1967 zu Gehör zu bringen (wie im Programm vorgesehen). Schon seine sympathische Moderation wurde mit „Sprich Deutsch“- Rufen quittiert, bevor dann ein Teil des Publikums sein Spiel immer heftiger störte und schließlich den Solisten „niederklatschte“! In einer ergreifenden Rede fragte Esfahani aufgebracht nach den Gründen der Ablehnung bzw. der Angst vor dem Neuen und weist daraufhin, dass er aus einem Land stammt (nämlich dem Iran), in dem es nicht selbstverständlich ist, dass Menschen und Kunst alle Freiheit genießen und in dem es nicht möglich ist, Musik frei aufzuführen. […] Zum Glück schritt ein Herr aus dem Publikum am Ende des Konzerts zur Bühne, um seiner Scham über diesen Vorfall Worte zu verleihen und Esfahani zu versichern, dass der Großteil des Publikums gerne seinen Vortrag gehört hätte. […]

Der neoliberale britische Independent hat unter der Überschrift „Iranian musician forced to stop Cologne concert after audience members jeer and shout ’speak German‘“ aus den Kölner Pöbeleien mittlerweile ebenfalls eine Story gemacht. Was dabei in, äh, bester britischer Pressetradition im Vordergrund steht, ergibt sich deutlichst aus der Artikelüberschrift. Kleiner Tipp: Mit Musik hat es nichts zu tun, schon gar nicht mit minimalistischer.

Und schließlich arbeitet sich auch Rainer Balcerowiak unter dem Titel „Die gefährliche Seite der Bürgerlichkeit“ auf cicero.de am Thema ab. Er beschränkt sich allerdings auf Zitate aus Axel Brüggemanns überaus schrillem Artikel auf crescendo.de* und bezeichnet im Übrigen Reichs „Piano Phase“ als „sicherlich gewöhnungsbedürftig“. Hm, für wen denn eigentlich? Der Artikel endet mit dem kryptischen Satz „Köln kann derzeit überall in Deutschland sein.“ Ist das eine Drohung? Gar eine stille Hoffnung? Oder doch nur Ausdruck schierer Panik? Man weiß es nicht. Aber gut: Ist ja auch Cicero. Bei Cicero weiß man nie (Full disclosure: Meiner Einschätzung nach vertritt das Blatt in der Regel auf sehr gepflegte Art rechtspopulistische Positionen und verteidigt weiterhin voller Inbrunst die Segnungen des Neoliberalismus).

Alle drei Beiträge haben eines gemeinsam: Totales Desinteresse für die ästhetische Seite der ganzen Angelegenheit. Ich denke mir mittlerweile, das Kölner Alte-Musik-Abo-Publikum war mit us-amerikanischer Konzeptmusik aus der Mitte des 20. Jahrhunderts schlicht hoffnungslos überfordert. Vermutlich kannten sie weder den Namen Steve Reich, noch haben sie jemals von einer Kunstmusikströmung namens Minimal music gehört. Nicht, dass das nicht bedauerlich wäre. Aber Unwissenheit lässt sich bekanntlich leicht beheben. Doch hat das weder etwas mit der aktuellen politische Lage im Iran, noch mit Ausländerfeindlichkeit, noch mit dem angeblich unmittelbar bevorstehenden Untergang der Demokratie in Deutschland zu tun. Was mich an allen drei Beiträgen nervt, ist die reflexhafte Politisierung eines gestörten Kunstmusik-Konzerts unter fast kompletter Ausblendung des Anlasses: Reichs Musik nämlich.


* Hier drei besonders prachtvolle Ausschnitte, bei denen sich Brüggemann literarischer Mittel bedient, wie sie zuletzt in Heinrich Manns „Der Untertan“ aus dem Jahr des Herrn 1914 gesichtet wurden: „Es gibt tatsächlich immer mehr Menschen, die das Konzert als eine Art musikalischer Penisvergrößerung verstehen, … weil sie zufällig aus dem gleichen Land wie Bach, Beethoven [Beethoven hatte flämische Vorfahren, S.H.] oder Wagner kommen. […] Menschen, die Künstler beleidigen und anschreien sind jene Menschen, die Ausländerkindern mit besoffenem Atem ‚Wir sind das Volk‘ entgegenkeifen. Bislang haben wir sie eher mit dem Horst-Wessel-Lied in Verbindung gebracht, nun ziehen sie auch Beethoven und Co. [will sagen: Steve Reich?!, S.H.] in den Schmutz. […] Die Wutbürger wollen ihren Bach, ihren Beethoven, ihren Wagner hören [also jetzt doch?!, S.H.], so wie sie ihr Schnitzel und ihre dicke braune Sauce spachteln und beim Anblick eines Sushis ‚Ihhhh!‘ schreien.“ Keine Ahnung, wem mit derartig fragwürdiger (Pseudo-)Literarisierung aktueller soziokultureller Problemlagen gedient sein soll, was das erklären soll oder wo hier irgendeine Form rational nachvollziehbarer Analyse, vulgo Journalismus, stattfindet. Gruselig, mal wieder.

Toleranz, Geschmack, Minimalismus

 

Was mich irritiert an der aktuellen Debatte um den durch Publikumstumulte erzwungenen Abbruch einer Performance von Steve Reichs Komposition „Piano Phase“ in der Kölner Philharmonie ist das gelegentlich auftauchende sog. „Geschmacksargument“. Das geht ungefähr so: „Prinzipiell bin ich ja schon tolerant gegenüber moderner Kunstmusik, aber Minimal music ist ja wohl eine Zumutung! Das ist wirklich immer dasselbe! Unglaublich nervtötend! Ist das überhaupt noch Musik? Jedenfalls ist es nicht mein Geschmack! Und das wird man ja wohl noch äußern dürfen!“

Halten zu Gnaden, aber für mich klingt das strukturell nach: „Prinzipiell habe ich natürlich nichts gegen andere Rassen, aber willst du wirklich ausgerechnet einen Aborigine zum Abendessen einladen? Das muss doch nicht sein, oder?“

Toleranz und Geschmack haben – entgegen landläufiger Meinung – rein gar nichts miteinander zu tun, werden aber, gerade, wenn es um sperrige Kunstmusik geht, immer wieder in eine schiefe Verbindung gebracht. Mir gefällt z. B. die Musik Helmut Lachenmanns überhaupt nicht, sie ist so ziemlich das Gegenteil dessen, was ich mir unter zeitgemäßer Kunstmusik vorstelle. Ich halte sie für ein verstaubtes, letztlich rückwärtsgewandtes Relikt der Nachkriegszeit, zweifellos von historischer Relevanz – aber ich kann sie nun mal partout nicht ab. Nur käme ich deswegen noch lange nicht auf die Idee, eine Aufführung von „Gran Torso“ durch Störgeräusche zu sabotieren oder gar türschlagend den Raum zu verlassen (obwohl mir das Stück tierisch auf die Nerven geht und mich wirklich physisch attackiert!). Ich bin so erzogen worden, meinen diesbezüglichen Emotionen dadurch Ausdruck zu verleihen, dass ich, sollte ich, aufgrund welch widriger Zeitläufte auch immer, tatsächlich in einem Konzert mit diesem Stück gelandet sein, dann eben nach Ende der Aufführung lediglich mühsam zwei-, dreimal die Handflächen rhythmisch gegeneinander bewege und ansonsten finster ins Dunkel starre. Mehr Mißfallen aber geht nicht (Anders bei Uraufführungen, wo man nach Belieben „Buh!“, „Bravo!“ etc. rufen kann.).

Wie kommt es, dass viele, gerade auch jüngere Menschen heute scheinbar nicht realisieren, dass „Geschmack“ und „Toleranz“ zwei ganz unterschiedlichen Begriffskategorien angehören? Hängt es eventuell damit zusammen, dass der soziale Druck, sich über einen dezidierten Geschmack identifizierbar, ja, einmalig machen zu müssen, kaum jemals höher gewesen sein dürfte als in der heutigen konsumbasierten Individualdemokratie (was allerdings in einer toleranten Gesellschaft kein wirkliches Problem darstellt und für die sattsam bekannten multikulturellen Verhältnisse sorgt)?

Blöd wird’s nur dann, wenn die Sache kippt und man die gesellschaftliche Hintergrundtoleranz nur noch als allgemeine kulturelle Indifferenz bzw. Gleichmacherei wahrnimmt. Zweifellos ist ein sinistres Gefühl allgemeiner kultureller Indifferenz bzw. eine rein konsumierende, besinnungslose, nichts mehr unterscheiden wollende „Kulturbeflissenheit“ eine Folge falsch verstandener Toleranz bzw. ein Überfluss- und -drussphänomen, aber das ist ein anderes Thema.

Um diesem „Unbehagen in der Kultur“ zu begegnen, fühlt man sich dann legitimiert, seine Meinung ganz besonders entschieden und, vor allem, emotional zu äußern („Argumente sind was für Weicheier!“), gegen die angeblich jegliche echte Kreativität erstickende Political Correctness zu stänkern und sich nur noch in regressiver „selektiver Toleranz“ zu üben: „Was mir nicht gefällt, muss ich auch nicht dulden!“ oder, in der vulgären Fassung: „Wenn ich was Scheiße finde, dann brüll ich das auch raus ohne Rücksicht auf Verluste. Schließlich leben wir in einer freien Gesellschaft, oder?“

Wer die gesellschaftliche Hintergrundtoleranz, die in Deutschland weiterhin von breiten Bevölkerungsschichten getragen wird, derartig missbraucht, ist entweder gedankenlos oder hat ein Identitätsproblem – welches dann aber am komplett falschen Ort ausagiert wird.

„Selektive Toleranz“ ist ein Widerspruch in sich. Denn die respektvolle Duldung und das Seinlassen der/des Anderen erträgt per definitionem keine weiteren Qualifikationen*.

Ich fasse zusammen:

  1. Toleranz ist wie Schwangersein. Entweder jemand ist es. Oder eben nicht.
  2. Toleranz heißt nicht, „alles gut finden zu müssen“. Sie beinhaltet sehr wohl basale Formen des Respekts und der Höflichkeit, hat aber nichts mit Liebedienerei bzw. opportunistischem Verhalten zu tun.
  3. Nicht der beweist eine „gute Erziehung“ oder gar „demokratisches Bewusstsein“, der zu jeglicher Form speziell staatlich geförderter Kultur Ja und Amen sagt, sondern diejenige, die mit ihrer Meinung als Bürgerin gerade hier nicht hinterm Berg hält.
  4. Etwas richtig Scheiße zu finden, hat nichts mit Intoleranz zu tun. Es handelt sich vielmehr um eine legitime emotionale Meinungsäußerung, für die jeder wirklich souveräne Künstler sogar dankbar sein wird**. „Opfert“ man diese Gefühle einem falsch verstandenen Begriff von „Kulturbeflissenheit“ à la „Es ist schließlich Kultur, also muss es gut sein!“, schadet man nicht nur seiner eigenen Psyche, indem man aus seinem Herzen eine Mördergrube macht, sondern letztlich auch dem allgemeinen kulturellen Diskurs, der genau dann komplett dysfunktional wird, wenn schließlich gar niemand mehr auszusprechen wagt, was er wirklich empfindet. So entsteht ganz allmählich ein soziokulturelles Reizklima, das die Tendenz hat, sich immer weiter aufzuschaukeln.***
  5. Dinge höflich zu (er)dulden, die einem nicht gefallen, hat nichts mit mangelndem Geschmack bzw. Urteilsvermögen oder kultureller Indifferenz zu tun. Es handelt sich vielmehr um die zivilisatorische Voraussetzung für eine funktionale multikulturelle Gesellschaft.

Natürlich ist das alles völlig uncooles staatsbürgerliches und zivilgesellschaftliches Basiswissen, dennoch scheint es mir notwendig zu sein, angesichts der Ereignisse in der Kölner Philharmonie mal deutlich darauf hinzuweisen.


* Das gilt natürlich nicht bei unmittelbarer gesundheitlicher Bedrohung, was im Falle von Kunstmusik bsp.weise bei subjektiv als unerträglich empfundener Lautstärke schon mal vorkommen kann. Will sagen, es hat nichts mit Intoleranz zu tun, wenn ich ein Konzert fluchtartig verlasse, weil es mir zu laut ist.

** Diese wird allerdings kommunikabler, wenn man sie auch begründen kann. Das macht aber Arbeit.

*** Exakt da stehen wir heute. Und exakt diese vertrackte Problemlage beuten dann rechtspopulistische Strömungen aus, indem sie behaupten, nur sie würden Dinge aussprechen, die sonst angeblich nicht ausgesprochen werden dürften. Das Problem ist aber ein ganz anderes: Viele, gerade karriereorientierte Menschen, haben ein recht „cooles“, strategisches Verhältnis zur Aufrichtigkeit, weil sie steif und fest der Meinung sind, es anders nicht weit bringen zu können. Sie sehen sich moralisch dabei allerdings als Opfer der Umstände, also letztlich als integer an. Klappt’s dann trotz allem nicht mit dem gesellschaftlichen Aufstieg, kann bei dieser Klientel toxische seelische Verbitterung entstehen, die wiederum von rechtspopulistischen Kräften abgeschöpft und in Hass gegen Wasauchimmer verwandelt werden kann.

Ich habe diesen Artikel zeitgleich in meinem Community-Blog beim Freitag veröffentlicht. Die Debatte dazu lässst sich hier verfolgen.