„The Harpsichord Riot“: Reich in Köln zum Zweiten

Die Ereignisse des 28. Februars in der Kölner Philharmonie ziehen weitere Kreise. Zunächst einmal ist der Bericht eines Augenzeugen – einem Orchestermitglied – aufgetaucht, der noch einmal alles bestätigt, was bereits bekannt ist. Trotzdem halte ich es für sinnvoll, ihn hier auszugsweise wiederzugeben, damit auch der letzte Zweifel zerstreut wird, bei der ganzen Chose handele es sich etwa um ein Produkt irgendeiner „Lügenpresse“. Alexander Scherf, Cellist bei Concerto Köln, schildert den Vorfall so:

Concerto Köln hat heute zusammen mit einem großartig spielenden Mahan Esfahani als Solisten ein spannendes Konzert in der Kölner Philharmonie gegeben … Nach einem bejubelten J. S. Bach Cembalokonzert versuchte Esfahani in der zweiten Konzerthälfte Steve Reichs „Piano Phase“ aus dem Jahr 1967 zu Gehör zu bringen (wie im Programm vorgesehen). Schon seine sympathische Moderation wurde mit „Sprich Deutsch“- Rufen quittiert, bevor dann ein Teil des Publikums sein Spiel immer heftiger störte und schließlich den Solisten „niederklatschte“! In einer ergreifenden Rede fragte Esfahani aufgebracht nach den Gründen der Ablehnung bzw. der Angst vor dem Neuen und weist daraufhin, dass er aus einem Land stammt (nämlich dem Iran), in dem es nicht selbstverständlich ist, dass Menschen und Kunst alle Freiheit genießen und in dem es nicht möglich ist, Musik frei aufzuführen. […] Zum Glück schritt ein Herr aus dem Publikum am Ende des Konzerts zur Bühne, um seiner Scham über diesen Vorfall Worte zu verleihen und Esfahani zu versichern, dass der Großteil des Publikums gerne seinen Vortrag gehört hätte. […]

Der neoliberale britische Independent hat unter der Überschrift „Iranian musician forced to stop Cologne concert after audience members jeer and shout ’speak German‘“ aus den Kölner Pöbeleien mittlerweile ebenfalls eine Story gemacht. Was dabei in, äh, bester britischer Pressetradition im Vordergrund steht, ergibt sich deutlichst aus der Artikelüberschrift. Kleiner Tipp: Mit Musik hat es nichts zu tun, schon gar nicht mit minimalistischer.

Und schließlich arbeitet sich auch Rainer Balcerowiak unter dem Titel „Die gefährliche Seite der Bürgerlichkeit“ auf cicero.de am Thema ab. Er beschränkt sich allerdings auf Zitate aus Axel Brüggemanns überaus schrillem Artikel auf crescendo.de* und bezeichnet im Übrigen Reichs „Piano Phase“ als „sicherlich gewöhnungsbedürftig“. Hm, für wen denn eigentlich? Der Artikel endet mit dem kryptischen Satz „Köln kann derzeit überall in Deutschland sein.“ Ist das eine Drohung? Gar eine stille Hoffnung? Oder doch nur Ausdruck schierer Panik? Man weiß es nicht. Aber gut: Ist ja auch Cicero. Bei Cicero weiß man nie (Full disclosure: Meiner Einschätzung nach vertritt das Blatt in der Regel auf sehr gepflegte Art rechtspopulistische Positionen und verteidigt weiterhin voller Inbrunst die Segnungen des Neoliberalismus).

Alle drei Beiträge haben eines gemeinsam: Totales Desinteresse für die ästhetische Seite der ganzen Angelegenheit. Ich denke mir mittlerweile, das Kölner Alte-Musik-Abo-Publikum war mit us-amerikanischer Konzeptmusik aus der Mitte des 20. Jahrhunderts schlicht hoffnungslos überfordert. Vermutlich kannten sie weder den Namen Steve Reich, noch haben sie jemals von einer Kunstmusikströmung namens Minimal music gehört. Nicht, dass das nicht bedauerlich wäre. Aber Unwissenheit lässt sich bekanntlich leicht beheben. Doch hat das weder etwas mit der aktuellen politische Lage im Iran, noch mit Ausländerfeindlichkeit, noch mit dem angeblich unmittelbar bevorstehenden Untergang der Demokratie in Deutschland zu tun. Was mich an allen drei Beiträgen nervt, ist die reflexhafte Politisierung eines gestörten Kunstmusik-Konzerts unter fast kompletter Ausblendung des Anlasses: Reichs Musik nämlich.


* Hier drei besonders prachtvolle Ausschnitte, bei denen sich Brüggemann literarischer Mittel bedient, wie sie zuletzt in Heinrich Manns „Der Untertan“ aus dem Jahr des Herrn 1914 gesichtet wurden: „Es gibt tatsächlich immer mehr Menschen, die das Konzert als eine Art musikalischer Penisvergrößerung verstehen, … weil sie zufällig aus dem gleichen Land wie Bach, Beethoven [Beethoven hatte flämische Vorfahren, S.H.] oder Wagner kommen. […] Menschen, die Künstler beleidigen und anschreien sind jene Menschen, die Ausländerkindern mit besoffenem Atem ‚Wir sind das Volk‘ entgegenkeifen. Bislang haben wir sie eher mit dem Horst-Wessel-Lied in Verbindung gebracht, nun ziehen sie auch Beethoven und Co. [will sagen: Steve Reich?!, S.H.] in den Schmutz. […] Die Wutbürger wollen ihren Bach, ihren Beethoven, ihren Wagner hören [also jetzt doch?!, S.H.], so wie sie ihr Schnitzel und ihre dicke braune Sauce spachteln und beim Anblick eines Sushis ‚Ihhhh!‘ schreien.“ Keine Ahnung, wem mit derartig fragwürdiger (Pseudo-)Literarisierung aktueller soziokultureller Problemlagen gedient sein soll, was das erklären soll oder wo hier irgendeine Form rational nachvollziehbarer Analyse, vulgo Journalismus, stattfindet. Gruselig, mal wieder.

7 Kommentare zu „„The Harpsichord Riot“: Reich in Köln zum Zweiten

  1. @Stefan,du schreibst:
    Ich denke mir mittlerweile, das Kölner Alte-Musik-Abo-Publikum war mit us-amerikanischer Konzeptmusik aus der Mitte des 20. Jahrhunderts schlicht hoffnungslos überfordert.

    D.h. Leute hörten sich das im Vorfeld an und meinten: Das gehört niemals auf unsere Bühne?! Warum auch immer.
    Minimal ist ja doch m.e. einigermassen bekannt. Auch Techno. Unlängst ein Ballett mit technoider Musik genossen. Das Publikum fand es nicht schlecht, nur für zuhause wäre das nix, meinte jemand. Dennoch wurde ausgiebigst geklatscht.
    Kann denn wirklich Reich als Auslöser gedient haben? Ich kenne die Konzertreihen dort jedenfalls nicht. Was wird erwartet, wie verhält sich das Publikum sonst? Alles Blackbox fur mich.

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  2. Die Sache hätte anders ausgesehen, wenn die Beteiligten vorm Konzertsaal Flugblätter verteilt hätten. Dann könnte man die Dose Toleranz vielleicht aufmachen, aber auch das wäre nichts, was im Kunstbetrieb nicht schon aus anderen Gründen vorgekommen wäre.

    Die Reaktion passt auch genau zu dem Stück. Es ist sehr konzeptuell und der Interpret sah es für nötig an, das Konzept zu erklären, als es unruhig wurde. Wenn man das Stück nicht kennt ist das ja nicht offensichtlich. Die Verschiebung setzt erst nach einer Weile ein, davor kommen nur Wiederholungen, das führt zu nem Gedanken ala „Meint der das ernst?“. Es passt doch alles.

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  3. @Gerhard, JJäger: wenn ich mich jetzt noch erinnern könnte, wie es bei mir damals genau war, also ob ich „six pianos“ zuerst gehört habe oder mir vorher jemand, d.h. Stefan, erklärt hat, was da jetzt passiert und was das Konzept ist…O.k., ich denke im Prinzip ist das, jedenfalls was mich von Natur aus neugierigen Menschen betrifft, sch…egal, denn wenn ich zuerst das Konzept gekannt hätte, hätte ich gedacht: „Aha, und wie klingt das jetzt?“ und hätte es hören wollen – umgekehrt wäre es wohl so abgelaufen: „Wow klingt das geil – wie hat er das gemacht?“ Übrigens müsste auf youtube irgendwo noch das Video sein, wo ein Pianist auf zwei im V zueinander stehenden Flügeln „Six pianos“ spielt, also einmal mit der linken und einmal mit der rechten Hand – ich hab’s mal probiert, den Lauf mit einer Hand zu spielen, es ging, aber ich hätte lange üben müssen. Selbst wenn ich hier jetzt was gegen die Musik haben sollte, gebietet es der Anstand, der „handwerklichen“ Leistung des Pianisten den ihr zustehenden Respekt entgegenzubringen – sei es wie es sei, ich finde es gehört sich, bis zum Ende zuzuhören und sich dann ein Urteil zu bilden und dann meinetwegen auch Unmut zu äußern, aber so wie das in Köln war, das war schlicht unanständig.

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  4. …bevor der shitstorm über mich hereinbricht: natürlich meine ich „piano phase“ und nicht den Klavierladen, und hier auch noch der link zur „first solo performance“:

    …ich find’s geil 🙂

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  5. …und weil irgendwo in der Debatte auch die Sprache auf John Cage’s 4’33“ kam, auch noch das Video dazu:

    Ich verneige mich vor dem „Soloist“ William Marx 😉 Wahrscheinlich liegt’s einfach nur an meiner Erziehung, aber selbst hier wäre ich erst einmal nicht auf den Gedanken gekommen, dazwischen zu rufen…

    Und weil Stefan es neulich auch ansprach – ich hab gerade kurz bei den 100 Metronomen von György Ligeti reingehört, da würde ich rausgehen, denn das bereitet mir tatsächlich physische Schmerzen.

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  6. @Gerhard: „Minimal ist ja doch m.e. einigermassen bekannt.“ – Da bin ich anderer Meinung. Ich vermute, der durchschnittliche Klassikhörer im deutschsprachigen Raum über 65 hat in seinem ganzen langen Hör-Leben noch nie von „Minimal music“ gehört. Von Stockausen: ja, ganz sicher. Aber nicht von Reich, Glass, Riley. Ich denke wirklich, der protestierende Teil des Publikums war mangels ästhetischer Vorbildung schlicht nicht in der Lage, die Repetitionen von „Piano Phase“ anders denn als (schlechten) Scherz wahrzunehmen.

    Reich selbst sieht das übrigens ebenfalls eher illusionslos bis sarkastisch. Als er vor ein paar Tagen einen Preis von Prince Charles himself überreicht bekam, trug sich folgendes zu: „Reich, 79, declared himself hugely honoured by the award. As to whether the Prince listens to his music, he didn’t know. ‚He didn’t volunteer that, but he seemed to be aware of my existence – let’s leave it at that!‘ he said.“ Eigentlich ziemlich ungezogen 😉

    Zwei Prinzen

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  7. @Stefan: interessant auch, was Reich hier zur Unterstützung und dem Interesse an seiner Musik im eigenen Land zu sagen hat:
    Reich’s first UK performances were possible because of state funding, funding of a kind that is now increasingly threatened or has long since disappeared. “In the states we never had the kind of funding you have here in the UK or on the continent,” said the composer. “That why when I was with my ensemble back in the 70s, 80s and 90s it was easier to come to play in Cologne or London than it was go to California. The idea of taxing people for the arts – if that was to happen in the states there’d be a revolution! But fortunately you have it over here which created a possibility for myself and many other American musicians of my generation to survive financially. So thank you very much, belatedly!”
    Ich verfolge hier sehr interessiert die Berichte über das Thema „Kultur“ im Rahmen der TTIP – Verhandlungen, fast scheint es, als bekäme man hier nur vom Deutschlandfunk hin und wieder eine Info zum aktuellen Stand…

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