Gehaltsästhetik und Sonifikation (Gedanken zu Lehmanns Musikphilosophie 8)

Der 38-jährige Schweizer Komponist Patrick Frank stellt in seinem Aufsatz „Institutionen im normativen Niemandsland“, der eben im deutschen Neue-Musik-Blatt „positionen“ erschien, eine simple, offene Frage: „… was war eigentlich die Avantgarde [in der eMusik, Anm. S.H.] unter den postmodern veränderten Vorzeichen?“

Ich kann darauf eine ebenso simple Antwort geben: Luc Ferrari, James Tenney, Steve Reich, Klarenz Barlow, Walter Zimmermann.

Diese Liste könnte (und sollte!) natürlich noch verlängert werden – sie ist nur deshalb so kurz, weil ich die Arbeiten dieser Komponisten (wenn auch in ganz unterschiedlichem Ausmaß) ganz gut kenne und mir deshalb auch zutraue, sie beurteilen zu können.

Ich sehe Barlow (Kranichsteiner Musikpreis 1980) mit seiner „Musica derivata“ als direkten Vorläufer von Johannes Kreidlers (Kranichsteiner Musikpreis 2012) Idee einer „Musik mit Musik„. Die Verwandtschaft dieser beiden Ansätze ist eigentlich so offensichtlich, dass es an Bizarrerie grenzt, dass sie noch niemandem aufgefallen ist  (aber, nun gut, evtl. gibt es schon 1.235 Dissertationen zu diesem Thema, deren Existenz mir jedoch bisher leider verborgen blieb. Ich bitte ggf. um entspr. Benachrichtigung).

Barlows kompositionsästhetisches Magnum Opus „Bus Journey to Parametron“ aus dem Jahr 1980 liegt nach meinem Kenntnisstand weiterhin nur als fotokopiertes Typoskript vor (bei mir zuhause zum Beispiel; die Homepage von Claudia Maria Zey reproduziert jedoch immerhin Barlows eigene deutschsprachige Meta-Zusammenfassung dieser Arbeit, danke schön.).  Gut, die „Omnibusreise“ ist auf Englisch geschrieben und verwendet (manchmal) komplexe mathematische Formeln, aber hermetischer als Xenakis‘ „Formalized Music“ kann sie auch nicht sein…

So scheint es mir reichlich fremdartig, dass eine Szene, die sich Intellektualität auf die Fahnen geschrieben hat wie kaum eine andere in der zeitgenössischen Kunstwelt, über 35 Jahre lang nicht in der Lage zu sein scheint, ein derartig detailliert durchdachtes Musik-Konzept wenigstens angemessen zur Kenntnis zu nehmen. Sicherlich lässt sich trefflich darüber streiten, ob Barlows Kompositionen ästhetisch gelungen sind oder nicht – jenseits der Diskussion scheint mir jedoch zu stehen, dass sein Musik-Konzept exakt die Mindestanforderungen einlöst, die Harry Lehmann an eine achtenswerte musikalische Postmoderne hat:

  • Aufklärungsfortschritt über die Leitbilder und Tabus der Nachkriegsavantgarde, die den Neuheitsanspruch der Neuen Musik schon seit längerem nicht mehr einlösen können
  • Aufwertung klassischer ästhetischer Mittel auf Kosten materialästhetischer Errungenschaften wie erweiterter Spieltechniken, Atonalität  oder Aleatorik, ohne in neo-konservativen bzw. reaktionären bzw. zynischen Populismus zu verfallen
  • durchgängige Doppelkodiertheit der Komposition, deren anspielungsreiche Verweisungsrhizomatik sich erst innerhalb kunstspezifischer Kriterien erschließt (in der Bildenden Kunst wäre hier Martin Kippenberger zu nennen)

[Nota bene: Es handelt sich hier um freie, durch eigene Gedanken angereicherte Paraphrasen der Thesen Lehmanns. Im Original lauten sie: „Die Aufwertung des ästhetischen Moments in der Postmoderne ist an sich noch keine Verfallserscheinung und kein Krisensymptom, sondern war ein Aufklärungsfortschritt über die Leitbilder und Tabus der historischen Avantgarde, die den Neuheitsanspruch der Neuen Musik nicht mehr einlösen konnte.“ (S. 91) und „Mit der Zeit werden alle maßgeblichen kunstspezifischen Kriterien, die für die anspielungsreichen Verweisungsrhizome der Postmoderne konstitutiv sind, im kulturellen Gedächtnis verblassen. Entsprechend kann sich dann auch kein Expertenwissen mehr regenerieren, das einer Doppelcodierung folgt.“ (S.131)]

Gleiches behaupte ich von den Musik-Konzepten meiner anderen Kandidaten für die Hall of Fame der e-musikalischen Postmoderne, nach der Patrick Frank sucht: Ferrari mit seiner „anekdotischen Musik“, Tenney mit seiner sonologischen Grundlagenforschung, (der frühe) Reich mit seiner „Musik als graduellem Prozess“  und schließlich Zimmermann mit seiner Verbindung aus philosophischen und musikalischen Ideen (wobei „Idee“ hier im Sinne des philosophischen Idealismus verstanden werden sollte, nicht als „Konzept“).

Bei all diesen Musik-Konzepten scheint es mir dahingehend um „Gehaltsästhetik“ im Sinne Lehmanns zu gehen, als Außermusikalisches bzw. Nicht-Musikalisches mit musikalischen Mitteln sonifiziert wird. Vielleicht kann man hier sogar – in loser Analogie zu den in den letzten Jahrzehnten Furore machenden „bildgebenden Verfahren“ in der Hirnforschung – von musikalischer Komposition als „tongebendem Verfahren“ sprechen. Denn die musikalische Komposition wird hier ja benutzt, um etwas klanglich darzustellen, das gerade nichts mit der Immanenz des Komponierens zu tun hat (die bis heute von bsp.weise Mahnkopf und Schick als einzige Trutzburg wider die Barbarei der Digitalisierung allen Seins wortreich, aber gehaltsarm beschworen wird.).

Aber was ist dieses zu sonifizierende „Etwas“ (Harry Lehman würde es wohl „Relat“ nennen)? –  Nun, bei Ferrari ist es der bestimmte Höreindruck eines bestimmten Individuums zu einem bestimmten Zeitpunkt (der ja eigentlich per definitionem nicht kommunikabel ist), bei Tenney sind es ebenso basale wie abstrakte sonologische Strukturen (die üblicherweise nur mathematisch – also nur für wenige Menschen verständlich – dargestellt werden können), bei Reich ist es die jungshafte Faszination durch asynchron laufende Tonbandmaschinen, die identisches akustisches Material abspielen (deren Phasenverschiebungs-Strukturen werden im Verlauf von Reichs früher Werk-Entwicklung allmählich in konventionellere musikalische Texturen rückübersetzt; heute spricht Reich, reichlich desillusioniert, nur noch von einer „Sonderform des Kanons“). Barlow schließlich unterwarf in seinen „Musica derivata“-Konzepten Kompositionen etwa von Clementi, Schumann, Ravel oder Beethoven selbstprogrammierten algorithmischen Transformationsprozessen, um Musik zu erschaffen, die für den materialästhetischen Fetisch der „Originalität“ scheinbar nur Hohn und Spott übrig hat, aber ironischerweise genau dadurch: – originell ist.

Es wird deutlich, dass das gehaltsästhetisch zu kommunizierende außermusikalische „Etwas“ von radikaler Unterschiedlichkeit ist, weswegen jetzt evtl. viele fragen werden, was die hier von mir gelisteten Komponisten denn eigentlich „musikalisch“ verbindet. Nun, materialästhetisch haben bsp.weise Ferrari und Barlow natürlich gar nichts miteinander zu tun: Ihre Musik hört sich komplett unterschiedlich an. Aber gehaltsästhetisch sind sie sehr wohl enge Nachbarn. Will sagen: setzt man erst einmal die materialästhetische Brille ab und die gehaltsästhetische auf, zeigen sich neue Zusammenhänge, andere wiederum zerfallen komplett.

Materialästhetisch wird Ferrari der Musique concrète zugeordnet, Tenney dem Spektralismus, Reich der Minimal music, Barlow wahlweise (sic!) der Neuen Einfachheit oder der New Complexity, Zimmermann der Neuen Einfachheit etc. Alle diese Rubrizierungen sind materialästhetisch vollkommen angemessen, tragen aber wenig bis nichts zum Verständnis der ästhetischen Intentionen der Künstler bei. Vielleicht ist es sinnvoll, so lese ich Lehmann, den Begriff der „musikalischen Verwandtschaft“ in Zukunft gehaltsästhetisch zu denken, um der Kunstkritik wieder ein mächtiges intersubjektives Kriterium für die ästhetische Beurteilung von Musik an die Hand zu geben.

Barlow, längst aus dem kulturell restaurativen Deutschland ins liberalere (?) Kalifornien emigriert, wird ja bis heute, auch von Wohlgesinnten, ästhetische Stümperei vorgeworfen (seine hochstehende technische bzw. technologische Kunstfertigkeit wurde stets akzeptiert) – dieses Urteil schien mir stets ein wenig vorschnell zu sein. Ich stand mit meiner Begeisterung für seine „C-Dur-Kompositionen“ die letzten 25 Jahre aber immer mutterseelenallein in der Gegend herum. Vielleicht ändert sich das jetzt?

Es würde mich freuen.

*

Was als Buchrezension begann, wurde zum blogwork in progress, da Harry Lehmanns Gedanken ein Schlaglicht auf viele Probleme der aktuellen Kunstmusik werfen. So blogge ich immer wieder mal über die „Digitale Revolution der Musik“, aber stets unter einem anderen Leitgedanken. Ein Index: McLuhan oder McKinsey?, Kritik der (Neo-)Avantgarde, Kritik der Postmoderne, Ästhetik, Gehalt, Notation, Kim-Cohen, Gehaltsästhetik und Sonifikation, Übersprungene Geschichte, Musik-Konzepte (aktualisiert 2015-03-29).

4 Kommentare zu „Gehaltsästhetik und Sonifikation (Gedanken zu Lehmanns Musikphilosophie 8)

  1. Vorsicht mit dem Begriff der Sonifikation, der ist klar definiert, da verfährst du zu frei.
    http://de.wikipedia.org/wiki/Sonifikation

    Wenn ich es recht verstehe gehört nur Barlow streng genommen zur Sonifikation, wie sie wissenschaftlich definiert ist. Wobei ich vielleicht nicht die Werke von Tenney kenne, die du meinst. Ferrari, Reich und Zimmermann sind aber definitiv keine „Sonifikatoren“.

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    1. @kreidler: Dass „Sonifikation“ ein besetzter Begriff ist, wusste ich natürlich, deswegen schrieb ich ja auch „in loser Analogie“. Ich bleibe bei „Sonifikation“ – es wäre ja nicht das erste Mal, dass ein ursprünglich technisch eng definierter Begriff im Laufe der Zeit eine breitere, „übertragenere“ Bedeutung gewonnen hat (man denke nur an die ursprünglich ausschließlich der Computerwelt vorbehaltenen Begriffe „Formatierung“ und „Festplatte“, oder an eine Formulierung wie „Das hatte ich nicht auf dem Schirm.“, die vor ca. 20 Jahren die meisten Menschen als äußerst exzentrisch empfunden hätten – heute regt sich kaum noch jemand darüber auf.) Außerdem lässt sich „Sonifikation“ / „Verklanglichung“ sehr schön dem altehrwürdigen Begriff der „Vertonung“ gegenüberstellen. Da klingen mal wieder zwei Begriffe sehr sehr ähnlich, fast austauschbar – und dann liegen Welten zwischen den dahinterstehenden Ideen…

      Was Tenney betrifft, so meine ich natürlich vor allem seinen „Spectral Canon for Conlon Nancarrow“ aus dem Jahr 1974:

      Den mathematischen Hintergrund dieser Komposition kann man in diesem Typoskript von Larry Polansky erfahren. – Und genau hier liegt der Hase im Pfeffer. Polanskys Text entspricht ziemlich genau dem, sagen wir mal, Habitus von Barlows „Bus Journey to Parametron“: Wer nichts von höherer Mathematik versteht, dürfte sich kopfschüttelnd abwenden (das ist keine Kritik – ich bewundere die Präzision mathematischen Denkens), aber Tenneys „Sonifikation“ (Inklangsetzung) haftet nichts Akademisches an. Man kann seine Komposition auch komplett ohne mathematisches Hintergrundwissen faszinierend finden. Aber zu sagen, er hätte lediglich Mathematik „vertont“ (das wurde und wird ja Barlow vorgeworfen), ginge doch komplett an der Sache vorbei, oder? Deswegen finde ich „Sonifikation“ gar nicht so übel.

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  2. Ja, das kann ich verstehen, der Begriff drückt allgemeiner eine technizistische Art von „Vertonung“ aus, eben als Gegensatz zur herkömmlichen expressiven Vertonung von Eindrücken. Vielleicht könnte man da aber auch noch einen anderen Begriff erfinden, „Sonierung“ oder so…. Das wäre wieder eine Aufgabe für Harry.

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